Natürlich ist Russland nicht Putin. So viel mehr als ihn umfasst dieses weite Land. Aber zugleich ist Putin auch Russland. Wie kaum ein anderer personifiziert er kollektive Erfahrungen und Sehnsüchte dieser postsowjetischen Gesellschaft; wie kaum einem anderen gelang es ihm, in den nun 20 Jahren seiner Regentschaft diesem Land und seinen Menschen den Stempel der Macht aufzudrücken, seiner Macht, einer historischen Mission folgend, wie er mir einmal sagte. Als ob sich die absurd klingende Vision seines ehemaligen Stabchefs Wjatscheslaw Wolodin erfülle: „Solange es Putin gibt, gibt es auch Russland. Ohne Putin – kein Russland.“
Prägnanter kann man das Wesen des Putinismus kaum beschreiben,Triumph und Tragik des um ihn kreisenden Machtsystems zugleich.
„Ohne Putin – kein Russland“
Moskau, im Frühjahr 2002. Wir lümmeln in Sesseln mit viel zu weichen Polstern, wir warten, wie alle, manchmal stundenlang. Es sind die ersten Jahre seiner Präsidentschaft, er lässt eine gewisse Nähe zu; scheinbar zumindest. Als erste westliche Journalisten können ihn der renommierte Kanzler-Fotograf Konrad R. Müller und ich über Monate immer wieder begleiten, auf Reisen, beim Angeln im Delta der Wolga, beim Sport morgens zu Hause, in seinem Kreml-Büro und auf internationalen Gipfeltreffen.
Schon damals kommt er eigentlich immer zu spät. Warum? Niemand weiß es genau. Vielleicht, weil er es sich leisten kann, alle warten zu lassen. Weil sich die neue russische Welt – und nicht nur die – schon früh um ihn dreht.

Er hat zu sich nach Hause eingeladen, in seine Residenz Nowo-Ogarjowo an der Rubljow-Chaussee vor den Toren Moskaus. Zwei mächtige, beigefarbene Ziegelbauten mit hochgeschwungenem Dach, Anklänge an Türme und Zinnen, drumherum der makellos gepflegte Park entlang der Moskwa. Als er endlich da ist, schenkt er Tee ein und bereitet kleine Butterbrote mit Kaviar zu, ein aufmerksamer, charmanter Gastgeber. Gerne pflegt er sein leises, feines Deutsch. Er ist privat – und ist es zugleich natürlich nicht. Doch er lässt Gespräche über Russlands Zukunft zu; über Demokratie und Reformen, über seine historische Mission als Begründer einer neuen russischen Staatlichkeit. Es hört sich alles so … westlich an: „Ich will echte Marktwirtschaft. Ich will ein echtes Mehrparteiensystem für Russland.“
Es sind lange Gespräche, ausführlich erklärt er – und doch: Irgendetwas stimmt nicht. Als ob er einem sicheren Gespür folgend nur sagt, was wir – womöglich – hören möchten.
Von außen betrachtet, gleicht sein Aufstieg zum Präsidenten der Russischen Föderation innerhalb von nur zehn Jahren einem Wunder. Aber in diesen russischen Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, diesen für viele Menschen in Russland so traumatischen sogenannten Wilden 1990ern, wurden viele Wunder gemacht, Milliardäre wuchsen über Nacht; die alte Partei-Nomenklatura erklärte sich kurzum zu Demokraten und nahm sich das ganze Land als Beute. Sein Netzwerk, seine ebenso diskrete wie effizient dienende Loyalität und seine Deutschkenntnisse waren kostbare Ressourcen zuerst in der Petersburger Stadtverwaltung, dann in der wichtigen Immobilienverwaltung des Kreml und als Direktor des KGB-Nachfolgers FSB, schließlich als Premierminister und designierter Nachfolger des schwer herz- und alkoholkranken Präsidenten Boris Jelzin. „Er war“, so charakterisierte ihn Jelzin, „auf militärische Art standhaft.“

Ob er stolz war auf sein Vaterland, die Sowjetunion, frage ich ihn, als er dann schon Präsident ist. „Nein, leider nicht“, antwortet er. „Wir führten doch immer so ein …”, er sucht nach dem deutschen Wort, „… erniedrigendes Leben.“
Skizzen eines ungewöhnlichen Aufstiegs
Konturen, kaum mehr, Skizzen eines in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Aufstiegs. Ein ersehntes Kind, sieben Jahre nach dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg in Leningrad geboren, dieser durch die systematische Hungerblockade der Deutschen so traumatisierten Stadt. Eine Million Tote, elendig verhungert und erfroren; Opfer in jeder Familie, auch in seiner eigenen. Die Überlebenden aber haben gelernt, über das wirklich Durchlittene zu schweigen.
Ein Junge wächst auf wie Millionen Sowjetkinder seiner Zeit, lebt mit seinen Eltern in einem kleinen Zimmer einer Gemeinschaftswohnung. Drei Familien teilen sich die Kommunalka in der Basskow-Gasse 12 oben im vierten Stock; eine improvisierte Küche im Flur; kein fließendes Wasser, auf dem Treppenabsatz springen die Ratten.
Der Junge entflieht der lärmenden Kommunalka-Enge auf die Straßen und Innenhöfe seines Viertels, dort, wo die größeren Jungs das Regiment führen. »Putka« ruft man den schmächtigen Jungen. Wie die Großen flucht er ordentlich und prügelt sich, läßt sich nie beleidigen. In jedem Fall Stärke zeigen – egal, ob man recht hat oder nicht. „Denn die Schwachen,“ würde Wladimir Putin später sagen, „die schlägt man.“

Ein Kind, offenbar unterfordert und überaktiv, es kann im Schulunterricht kaum still sitzen. Krabbelt unter die Bank, springt ständig auf, wirft mit Schwämmen. Einmal, erzählte mir seine damalige Lehrerin Vera Gurewitsch, lief er hinaus auf den Balkon vor dem Klassenzimmer oben im vierten Stock, hängte sich ans Geländer und hangelte sich von Fenster zu Fenster.Offenbar hat dieser Junge keine Angst. Oder wenig Gespür für Risiko.
Seine rastlose Energie kann er in der damals neuen Kampfsportart Sambo bündeln, eine Mischung aus Karate und Judo. Das harte Training im Leistungskader, der Gruppenzwang und der von ihm bewunderte Trainer bringen ihm Disziplin und Geduld bei, Kontrolle über seine Emotionen; diese zurückhaltende, manchmal lauernd scheinende Konzentration.
Ein Jugendlicher träumt sich in ein Abenteuerleben als Geheimagent, geprägt wohl von den damals so populären Fernsehserien über KGB-Spione im Kampf gegen die Nazis, sowjetische 007-Versionen. Und klopft eines Tages an die mächtigen Tür der Leningrader KGB-Zentrale, dem Großen Haus, will sich bei dem so gefürchteten Geheimdienst bewerben, dieser Waffe von Terror und Diktatur, den die allermeisten Menschen ängstlich meiden. Wladimir Putin studiert Jura, um seine Aufnahmechancen zu verbessern.
Als junger KGB-Offizier wird er 1985 in seinen ersten Auslandseinsatz geschickt; nun Teil einer Eliteorganisation, „Schild und Schwert“ der Partei. Kommt in die DDR nach Dresden, eher ein Außenposten. Es ist wohl mehr Bürodienst als Agentenabenteuer für den Operativbevollmächtigten. Seine deutschen Freunde sind vor allem Kollegen, Stasi-Leute. Was in diesen Jahren in seiner Heimat passiert, muss ihm fremd und fern erscheinen: Generalsekretär Michail Gorbatschow und dessen Charmeoffensive im Westen; Glasnost und Perestroika, die großen Hoffnungen und die Dynamik des Aufbruchs. Dieses Gefühl, wenn man die Angst vor den Mächtigen verliert. Und Freiheit ahnt.
Vielmehr erlebt Genosse Putin im Winter 1989 die „Paralyse der Macht“, wie er später sagt. Das System, dem er treu gedient hat, verrät ihn. Es soll eines seiner Schlüsselerlebnisse gewesen sein, jener Tag kurz nach dem Fall der Berliner Mauer, als sich Dresdner Bürger am 6. Dezember 1989 vor der KGB-Residentur versammeln und Zutritt forderten. Putins Bitte um Hilfe beim sowjetischen Militärkommandanten blieb unbeantwortet.