Wladimir Putin scheint mit dem Präsidentenamt verschmolzen zu sein. Das gab er sogar selbst bei seiner Rede in der Plenarsitzung der russischen Staatsduma am 10. März 2020 zu: „Ich bin überzeugt, dass einmal eine Zeit kommen wird, in der die höchste Macht in Russland, die des Präsidenten, nicht mehr personifiziert sein und nicht mehr mit einem konkreten Menschen verbunden sein wird“ (kremlin.ru 2020) . Wann dieser Zeitpunkt gekommen ist, ließ er allerdings offen. Russland müsse noch eine lange, evolutionäre Entwicklung durchmachen, für die eine starke Präsidentenvertikale absolut unabdingbar sei. Im März 2020 leitete Putin mit einer Verfassungsänderung, die die Annullierung seiner bisherigen Amtszeiten gestattet, alles in die Wege, um auch nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024 im Amt zu bleiben. Lässt sich die Person Putin überhaupt von der Institution des Präsidenten trennen? Welches System hat Putin in den vergangenen 20 Jahren an der Macht aufgebaut? Und letztlich: Wie viel Putin steckt im heutigen Russland?
Die Frage, wie lange Putin noch das Präsidentenamt bekleidet, erregt schon eine ganze Weile die Gemüter. Nach zwei Dekaden als Staatsoberhaupt und zwischenzeitlicher Regierungschef kündigte Putin im Januar 2020 eine Verfassungsreform an. Diese markiert nicht nur den weitreichendsten Eingriff in die Verfassung seit deren Inkrafttreten im Dezember 1993, sondern macht ihm durch die Annullierung der bisherigen Amtszeiten auch den Weg frei, im Jahr 2024 seine fünfte Amtszeit anzutreten. Nach so vielen Jahren an der Macht stellt sich die Frage: Unterscheiden sich die Person und das System Putin überhaupt noch voneinander?
Entscheidet Putin alles selbst?
Gerne wird behauptet, dass der politische Prozess in Russland allein von der Person Putin gesteuert wird. Besser jedoch trifft es die Vorstellung, dass wir es in Russland mit einem „Doppelstaat“ zu tun haben. In diesem Staat gibt es zwei unterschiedliche Funktionsmodi oder Regime, deren Wechselwirkung für ständige Spannung und Unsicherheit sorgt. Das eine Regime ist das der „manuellen Kontrolle“ (Steuerung von Hand) des Präsidenten. Das zweite Regime wird von regelmäßigen und regelbasierten Verhaltensmustern, etwa in der Staatsverwaltung, bestimmt, in die sich auch der starke Präsident nicht ohne weiteres einmischen kann.
Schon Jelzin wurde aufgrund seines personalistischen Stils als Wahlmonarch bezeichnet (Shevtsova 2007) . Die Personalisierung hat dennoch vor allem unter Putin stetig zugenommen. Immer mehr Politikfelder des zweiten Regimes sind nicht mehr vor Übergriffen des ersten Regimes geschützt (Baturo u. Elkink 2016) . Aber auch das regelbasierte, institutionalisierte Verhalten sollte nicht mit „Demokratie“ oder guter Regierungsführung verwechselt werden: Selbst im Stalinismus war ein solches zweites Regime bis zu einem gewissen Grad vorhanden (Gorlizki 2002) .
Putin als Mafiaboss eines Netzwerkstaates?
Um das System Putin zu beschreiben, kann man sich eine Art Sonnensystem vorstellen, in dem verschiedene Akteure aus der politischen und wirtschaftlichen Elite in mehreren Umlaufbahnen um die Sonne Putin kreisen. Die Himmelskörper sind von unterschiedlichem Gewicht, sind näher an der Sonne oder weiter weg von ihr und können auch eigene Satelliten haben. Man kann jedoch auch andere Metaphern bemühen: Ein Politbüro, in dem es nach sowjetischem Vorbild unterschiedliche Mitgliederkategorien gibt. Oder mehrere Kreml-Türme, die sich im Streit gegenüberstehen. Eines der elaboriertesten Modelle ist das des sistema (dt. System): ein Netzwerkstaat, in dem die Elite Gesetze beugt oder umgeht (Ledeneva 2013) . Dadurch entstehen gegenseitige Abhängigkeiten in dem äußerst komplexen Beziehungsgeflecht dieser Elite.

Es wäre allerdings zu stark vereinfacht, wenn man das sistema auf eine Kleptokratie, einen Mafiastaat oder eine Militokratie – die alleinige Herrschaft der silowiki – reduziert. Informelle Praktiken verbleiben vielmehr immer mehrdeutig und bewegen sich fließend zwischen Legalität und Illegalität, Legitimität und Illegitimität. Ein Telefonanruf aus der Präsidialverwaltung kann etwa dazu genutzt werden, um Einfluss auf Gerichte zu nehmen (Telefonjustiz). Andererseits tätigen Gouverneure zuweilen Anrufe, damit Fabriken trotz bürokratischer Hürden gebaut werden oder damit aggressive Aufsichtsbehörden von erfolgreichen Unternehmen ablassen. Dem neuen Premierminister Michail Mischustin gelang es beispielsweise, die Steuerbehörde zu modernisieren. Er gilt als ein effektiver Manager im Staatsdienst, der 2020 den zweitwichtigsten Posten im Land erhielt. Gleichzeitig häufte er laut dem Fonds für Korruptionsbekämpfung mit Hilfe seiner Familienmitglieder ein bedeutendes Vermögen an.
Organigramm der Macht
Welchen Platz nimmt Putin im sistema ein? Im Netzwerkstaat spielen nicht nur die persönlichen, sondern auch formale Kompetenzen eine herausragende Rolle. Diese signalisieren den einzelnen Akteuren der Elite, wer der mächtigste Patron des Netzwerks ist. Aufgrund seiner Position als Staatsoberhaupt ist Putin Dreh- und Angelpunkt dieses patronalen Präsidentialismus (Hale 2014) . Er steht an der Spitze unterschiedlicher pyramidenförmiger Netzwerke und agiert so als Schiedsrichter im Kampf um Macht und Ressourcen in Staat und Wirtschaft.
Wladimir Putin erbte von Boris Jelzin eine Verfassung aus dem Jahr 1993, in der das Präsidentenamt insbesondere im internationalen Vergleich mit enormen Kompetenzen ausgestattet war. Die Kompetenzen sind zwar auf verschiedene Staatsorgane verteilt, der Präsident ist aber kaum durch Checks and Balances eingehegt. Er schwebt über den Gewalten und hat vor allem in Bezug auf das Parlament das letzte Wort.
Obwohl die Verfassung bis auf wenige Ausnahmen bis zum Jahr 2020 nahezu unangetastet blieb, wurden die Kompetenzen des Präsidenten seit 1993 stetig jenseits der Verfassung ausgebaut. Das Ergebnis war eine institutionalisierte Macht-Asymmetrie, in der Präsident und Exekutive eine viel größere Rolle spielen als alle anderen Gewalten (Burkhardt 2017) . Betroffen war das gesamte politische System, angefangen bei Parlament und Parteien über Wahlen, Gerichte, Föderalismus bis hin zu Staatsverwaltung, Zivilgesellschaft und Medien.
Alles nur Augenwischerei und „virtuelle Politik“?
Während in den 2000er Jahren bei vielen das Gefühl entstand, dass formal demokratische Institutionen wie Parteien, Parlament oder eben Wahlen in Russland unter Putin einfach „virtuelle Politik“ (Wilson 2005) und Augenwischerei sind, setzte sich in den letzten Jahren eine neue Erkenntnis durch: Politische Institutionen funktionieren zwar anders als in Demokratien, aber sie erfüllen trotzdem wichtige Funktionen. Wahlen zum Beispiel sind in Russland zwar nicht fair und frei, der Wahlkampf ist verzerrt und nicht demokratisch. Dennoch sind sie nicht bedeutungslos: Anfangs sollten sie Eliten und Opposition kooptieren und Informationen darüber liefern, wie viel Rückhalt das Regime in der Bevölkerung überhaupt hat. Später sollten die hohen Wahlergebnisse für Putin und Einiges Russland vor allem Signale der Stärke senden und wurden genutzt, um die Loyalität von regionalen Bürokraten zu kontrollieren (Zavadskaya et al. 2017) . Ähnlich verhält es sich mit der sogenannten „Partei der Macht“, der Regierungspartei Einiges Russland: Trotz des schlechten öffentlichen Images garantiert die Partei durch ihre dominante Stellung in der Föderalversammlung, unter Gouverneuren, in Regionalparlamenten und unter Bürgermeistern den inneren Zusammenhalt der Eliten und dient als Warnsystem, um illoyales Verhalten oder Gegenmobilisierung in der Elite frühzeitig ans Licht zu bringen.

Die übermäßige Zentralisierung hat allerdings auch ihren Preis. Schon zu Beginn seiner ersten Amtszeit drängte Putin auf die Harmonisierung föderaler und regionaler Gesetzgebung, verstärkte die Kontrolle über die regionalen Sicherheitsbehörden durch die Einrichtung von Föderalbezirken, schaffte 2004 die Gouverneurswahlen ab, entzog den Regionen durch ein kompliziertes Umverteilungssystem bedeutende Steuereinnahmen und erhöhte somit die fiskalische Kontrolle. Allerdings führte diese Zentralisierung nicht zu besseren Politikergebnissen. Sie ist vielmehr gar einer der Gründe für Russlands bad Governance(Gel’man u. Zavadskaya 2020) . Steuerungsprobleme, mangelnde Feedbackmechanismen und Fehlanreize für die Regionen verhindern, dass die sozioökonomischen Ziele erreicht werden, die in den Mai-Ukasen 2012 und in den Nationalprojekten 2018 festgelegt worden waren. Obwohl es in der föderalen und regionalen Zivilverwaltung durchaus einzelne „Nischen der Effizienz“ (Gel’man 2018) gibt, führen die institutionalisierten Macht-Asymmetrien zu einem Paradox der Macht: Der omnipotente Präsident, der durch manuelle Kontrolle in alle Politikbereiche eingreifen kann, ist gleichzeitig auch ohnmächtig, wenn es um Alltagsmanagement und langfristige Ziele geht.
Wie beliebt ist Putin?
Der Kreml lässt die Beliebtheit Putins gerne in Umfragen messen, und das hat einen guten Grund. Das Präsidentenrating ist eine der wichtigsten Machtressourcen, die Putin zur Verfügung stehen. Die andauernd hohen Zustimmungswerte pendeln in den vergangenen 20 Jahren zwischen 60 und knapp 90 Prozent und symbolisieren die direkte Rückbindung des „nationalen Leaders“ zum Volk. Um das Image der Unbesiegbarkeit und Alternativlosigkeit aufrechtzuerhalten, muss der Kreml dafür sorgen, dass Putin dauerhaft und mit deutlichem Abstand der beliebteste Politiker in Russland ist (Magaloni 2006) . Als ständige Plebiszite der Zustimmung sollen die Ratings und Umfragen andere defekte Kanäle der Rückbindung an die Bevölkerung – wie Wahlen oder Medien – ersetzen (Yudin 2019) . Selbst für Gouverneure in den Regionen gelten sie als eine der wichtigsten Indikatoren, die über ihre Karriere entscheiden (Reuter u. Robertson 2012) .
Was macht Putin aber populär, und inwieweit ist diese Popularität echt? Insbesondere die Schwankungen in den Vertrauens- und Zustimmungswerten zeigen, dass nicht so sehr Putins Biographie und persönliche Charakterzüge zu seiner Popularität beitragen, sondern vor allem zwei Aspekte: Zum einen die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Entwicklung und die Zukunftserwartung in Bezug auf die eigene wirtschaftliche Lage. Und zum anderen Außenpolitik, insbesondere die Wahrnehmung einer Gefahr von außen.
Große Schwankungen nach unbeliebten Sozial- oder Rentenreformen oder längerfristige Abwärtstrends nach der Weltwirtschaftskrise spiegeln veränderte Wahrnehmungen in der Bevölkerung wider (Treisman 2011)