Die Worte des Präsidenten

Wie wir die Daten aufbereitet haben

Die Grafik zeigt, wie oft einzelne Begriffe und Begriffskombinationen auftauchen in den Veröffentlichungen der russischen Präsidenten vom Jahr 2000 an bis einschließlich 16. Januar 2024.

Bei der Aufbereitung und Darstellung der Daten haben wir uns weitgehend orientiert am Vorgehen der Kollegen von Zeit Online in ihrem Projekt 70 Jahre Bundestag – Darüber spricht der Bundestag.

Um welche Daten geht es?

Ausgangsbasis der Analyse sind die über 10.000 Stenogramme, die zwischen dem 1. Januar 2000 und dem 16. Januar 2024 auf der Seite des Kreml veröffentlicht wurden. Das können offizielle Ansprachen des russischen Präsidenten sein, Gesprächsprotokolle, Interviews, aber auch etwa Gastbeiträge in Zeitungen.

Vom 7. Mai 2008 bis zum 6. Mai 2012 war Dimitri Medwedew Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin übernahm derweil das Amt des Premierministers. Das heißt, für die Zeit der sogenannten „Rochade“ beziehen sich die Daten auf Medwedew, erst ab dem 7. Mai 2012 wieder auf Putin. Wir haben die Jahrgänge in der Grafik entsprechend gekennzeichnet.

In den auf kremlin.ru veröffentlichten Stenogrammen sind nicht nur die Redebeiträge des Präsidenten abgebildet, sondern auch die von Gesprächspartnern, Interviewern etc. Letztere haben wir für unsere Grafik so gut es geht vorab herausgefiltert, jedoch sind diese Beiträge nicht immer einheitlich markiert, sodass wir leichte Verzerrungen hier nicht einhundertprozentig ausschließen können.

Wie sind wir vorgegangen?

Für die Analyse haben wir die gefilterten Stenogramme zunächst in Einzelwörter – sogenannte Tokens – zerlegt. Die Liste der Einzelwörter haben wir dann um sogenannte Stopwords bereinigt – das sind Wörter wie „und“ (и), „so“ (так) oder „nur“ (только), die für die Analyse keine besondere Relevanz haben. 

Da die Begriffe (insbesondere im Russischen) in verschiedenen Formen auftreten können (газета, газеты, газете, газету, …), ging es als nächstes darum, alle Varianten zu vereinheitlichen, sie in ihre Grund- bzw. Lexikonform zu bringen. Dieser Schritt wird in der Computerlinguistik Lemmatisierung genannt. Hierfür verwenden wir einen Algorithmus, den der russische Suchmaschinenanbieter Yandex entwickelt hat. (In der englischen Version verwenden wir den StanfordNLP LemmaProcessor).

Da uns nicht nur Einzelbegriffe interessieren, sondern auch Wortverbindungen wie „künstliche Intelligenz“ (искусственный интеллект) oder „Großer Vaterländischer Krieg“ (Великая Отечественная Война), haben wir die Daten außerdem nach Wörtern durchsucht, die besonders häufig in Zweier- und Dreier-Kombinationen auftreten (sogenannte N-Gramme).

Schließlich haben wir gezählt, wie oft die Wörter und Wortverbindungen jeweils in den Dokumenten der einzelnen Jahre auftauchen. Um Verzerrungen durch unterschiedliche Publikationsvolumina in den Jahren auszuschließen, zeigen wir in der Grafik nicht die absolute, sondern die relative Häufigkeit: wie oft ein Wort bzw. eine Wortverbindung pro 100.000 Wörter in einem Jahr auftaucht. 

Was sollte noch beachtet werden?

Rechtschreibfehler können wie in den Originaldokumenten enthalten sein. Um den Datensatz überschaubar zu halten, zeigen wir nur Begriffe, die mindestens dreimal im gesamten Zeitraum vorkommen. 

Für die deutsche und russische Version dieser Grafik wurden die russischsprachigen Veröffentlichungen des Kreml verwendet, für die englische Grafikversion die englischsprachigen. Da auf der englischen Kreml-Seite etwas weniger Dokumente veröffentlicht sind, die Übersetzungen zum Teil von den Originalen abweichen können und auch die Schreibweise nicht immer einheitlich ist („modernisation“ vs. „modernization“) kann es zu Unterschieden zwischen der englischen und der russischen Version kommen.

In der deutschen Version können bedarfsweise maschinelle Übersetzungen der russischen Suchbegriffe angezeigt werden. Hierfür verwenden wir eine Kombination aus Yandex.Dictionary und Yandex.Translate.

Putin entschlüsseln

Im März 2000 wurde Wladimir Putin zum ersten Mal zum russischen Präsidenten gewählt. Nun ist er 20 Jahre an der Macht. 20 Jahre sind viel. Und viel ist passiert: Terroranschläge, Wirtschaftskrisen, der Russisch-Georgische Krieg, die Krim-Annexion und der Krieg im Osten der Ukraine, Sanktionen gegen Russland und Gegensanktionen. Umfangreiche Reformen wurden durchgeführt, es gab fünfmal ein neues Parlament und es gab große Protestaktionen.

Das dekoder-Special 20 Jahre Putin ist ein Versuch, Putin zu entschlüsseln. Nicht nur im übertragenen Sinn, sondern tatsächlich in einem technischen. Dafür haben wir ein Tool entwickelt, das die Texte der offiziellen Webseite des russischen Präsidenten grafisch aufbereitet und die Häufigkeit der von Putin (2000–2008 und 2012–2020) und Dmitri Medwedew (2008–2012) verwendeten Wörter in Grafiken zeigt. Wissenschaftler aus europäischen Universitäten greifen sich einzelne dieser Begriffe heraus und schreiben kurze Stories.

Duma entschlüsseln – das neue Special

27 Jahre, 7 Legislaturperioden, 385.000 Redebeiträge. dekoder hat gemeinsam mit der Novaya Gazeta die Sitzungs-Stenogramme der russischen Staatsduma durchforstet, um herauszufinden worüber und wie oft welche Abgeordneten seit 1994 gesprochen haben – Die Duma spricht

Medwedews HighlightsRussland und die UkraineSozialpolitikKampf gegen KorruptionNationalitätenpolitik

Medwedews Highlights

Text: Übersetzung: Jennie Seitz17.03.2020

2024 wären die nächsten zwei Amtszeiten zu Ende gegangen, die Wladimir Putin per Verfassung zustehen. Doch er beschloss, die Verfassung einfach umzuschreiben, um auch die nächsten zwölf Jahre an der Macht zu bleiben. Putins Legislaturperioden waren schon einmal am Ablaufen, und damals, 2008, wählte er einen anderen Weg der Machterhaltung: Präsident wurde ein alter Weggefährte aus St. Petersburger Zeiten, Dimitri Medwedew

Was dann in den nächsten vier Jahren folgte, überzeugte Putin möglicherweise davon, heute einen anderen Weg einzuschlagen. Auch wenn viele Experten davon ausgehen, dass Medwedew in Wirklichkeit nie eine eigenständige Figur war, so gibt es zumindest auf rhetorischer Ebene deutliche Unterschiede zwischen den beiden, die zuweilen sogar in offenem Streit endeten. Hier sind die wichtigsten Schlagwörter der Medwedew-Periode.

georgienfriedensstiftend

Bald nach Medwedews Amtsantritt geschah das wichtigste außenpolitische Ereignis seiner Präsidentschaft – der Georgienkrieg. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg trat Russland in einen bewaffneten Konflikt mit einem europäischen Land. Als Vorwand für diesen Krieg, der nur wenige Tage im August 2008 andauerte, diente der georgische Angriff auf das russische friedenskontingent in Südossetien, einem kleinen nicht anerkannten Staat an der russisch-georgischen Grenze. Das darauf folgende Vorgehen der russischen Armee wurde von den staatlichen Medien gerechtfertigt als Operation, um Georgien zum Frieden zu zwingen. Nach dem Krieg erkannte Moskau die Unabhängigkeit Südossetiens sowie Abchasiens an, einer weiteren abtrünnigen Region in georgien. Das führte nicht nur zu einem Bruch mit Georgien, sondern auch zu einer drastischen Verschlechterung der Beziehungen zu den westlichen Staaten. Georgien selbst geriet jedoch bald wieder in Vergessenheit.

resetstrategische offensivwaffenwto

Ende 2008 wurde in den USA ein neuer Präsident gewählt, der Demokrat Barack Obama, der schon im März 2009 eine Revision der amerikanisch-russischen Beziehungen initiierte, eine Politik, die den Namen reset bekam. Das sichtbare Ergebnis der neuen Entspannungspolitik war die Unterzeichnung eines Abkommens zur Reduzierung strategischer waffen (New START), dessen Vorgänger 2002 aufgekündigt worden war. Damit demonstrierten beide Staaten die Bereitschaft, auf eine gegenseitige atomare Bedrohung zu verzichten. Außerdem fand unter Medwedew der entscheidende Teil der Verhandlungen über den Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation, der wto, statt (formal wirksam wurde der Beitritt 2012 erst wieder unter Putin). Damit ordnete sich Russland den globalen Regeln des Handels unter, was für großen Unmut unter den Staatsökonomen sorgte.

usaamerika

Bei all dem mag es paradox erscheinen, dass Medwedew die usa weit seltener erwähnte als Putin. Doch dafür gibt es eine einfache Erklärung – er benutzte meistens das umgangssprachlichere amerika.

libyen

Nach Ansicht einiger Politikexperten war es Medwedews Unterstützung der amerikanischen Position im Libyen-Konflikt, die zum offenen Streit mit Putin führte. 

Zum Hintergrund: Anfang 2011 entfachte in libyen ein Bürgerkrieg, bei dem der damalige Diktator Muammar al-Gaddafi klar im Vorteil gewesen wäre, wenn er die Luftwaffe eingesetzt hätte. Doch die westlichen Staaten forderten eine Flugverbotszone über Libyen, gegen die Russland auf Medwedews Initiative hin kein Veto im UN-Sicherheitsrat einlegte, obwohl Putin sich offen dafür ausgesprochen hatte. In der Folge wurde Gaddafi gestürzt, und Putin kehrte bald auf den Präsidentenposten zurück.

krise

Der Beginn von Medwedews Amtszeit fiel mit der globalen Wirtschaftskrise von 2008/2009 zusammen. Dank der harten Finanzpolitik der Regierung konnte sich Russland relativ schnell erholen – kurzzeitig war alles stabil, bis zum Einbruch der Ölpreise 2013 und den Sanktionen infolge des Ukrainekonflikts. Interessanterweise nannte Putin die Krise von 2015/2016, die in vielem eine innerrussische Krise war, wesentlich seltener als Medwedew „seine“.

modernisierungdemokratie

Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise sprach Medwedew besonders häufig von der Notwendigkeit, das Land zu modernisieren. Das Wort modernisierung klang für viele nach einer Neuauflage der Perestroika – zur Freude der einen und Besorgnis der anderen. Medwedew sprach außerdem wesentlich öfter von demokratie als Putin. 

Die Modernisierung bestand im Kern aus dem Versprechen, eine innovative Wirtschaft aufzubauen, staatliche Vermögenswerte zu privatisieren und den Energiesektor aktiv zu entwickeln. Umgesetzt wurde im Grunde nur Letzteres – die Öl– und Gasindustrie wurde tatsächlich einen der innovativsten Branchen, soweit das aufgrund ihrer Spezifik überhaupt möglich ist.

computerinternet

In den Köpfen vieler Russen ist die Modernisierungsideologie eng verwoben mit Medwedews persönlicher Begeisterung für technische Endgeräte (damals kamen gerade die ersten iphones auf den Markt), für das internet und die sozialen Netzwerke. Das brachte ihm bei seinen Kritikern den Beinamen „twitter-Präsident“ ein, auch wenn sein Kanal nie eine wirkliche Feedbackfunktion hatte.

milizpolizeiarmee

Im April 2009 erschoss der Polizeimajor Denis Jewsjukow unter starkem Alkoholeinfluss mehrere Menschen in einem Moskauer Supermarkt. Bald darauf brachte die Medwedew-Regierung die wahrscheinlich meistbesprochene Reform auf den Weg: die Reform des Innenministeriums MWD. Sie führte jedoch lediglich zu einer Umbenennung der miliz in polizei und änderte kaum etwas an ihrem inneren Aufbau, vor allem nicht am „Stock-System“, das die Effektivität eines Polizeibeamten an der Zahl der aufgedeckten Verbrechen („Stock“) bemisst und zum Missbrauch verleitet. Das Interessante dabei ist, dass Medwedew – mit weitaus größerem Erfolg – auch eine Reform der armee durchführte, die er allerdings so gut wie gar nicht erwähnte.

korruption

Als 2017 Alexej Nawalnys Film On wam ne Dimon (Für euch ist er kein Dimon) herauskam, wurde Medwedew, damals Premierminister, schon fast zum Inbegriff der korruption. Um so interessanter, dass ausgerechnet er es war, der dieses Wort in den aktiven Präsidentenwortschatz eingeführt hat. Aber Worte änderten kaum etwas an der Situation, zumindest nicht in den Augen der urbanen Mittelschicht: Die Fälschungen bei den Duma-Wahlen 2011 wurden von vielen als Beispiel für politische Korruption wahrgenommen, und es waren die darauf folgenden Proteste, die Nawalny, der früher gegen Finanzverstöße in staatlichen Unternehmen kämpfte, zum Anführer der russischen Opposition machten. Übrigens haben weder Putin noch Medwedew den Namen Nawalny je erwähnt.

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Russland und die Ukraine

Text: 17.03.2020

Zwei zentrale Ereignisse – die Annexion der Krim und der Krieg im Osten der Ukraine haben die Politik Russlands und Russlands Beziehungen zur Ukraine, Europa und den USA maßgeblich beeinflusst. Sie spielen allerdings in offiziellen Verlautbarungen Russlands nur punktuell eine Rolle – ein klares Anzeichen dafür, wie weit Politik und Rhetorik des russischen Staates auseinandergehen.

ukraine

Die Ukraine wird für den russischen Präsidenten erst in Krisensituationen zum Thema – zunächst im Zusammenhang mit der Orangenen Revolution 2004, als der von Russland unterstützte Präsidentschaftskandidat Viktor Janukowitsch durch Massenproteste an der Manipulation des Wahlergebnisses gehindert wurde. Dann während der Euromaidan-Proteste 2013/14, auf die Russland mit der Krim-Annexion und Unterstützung für die Separatisten im Donbass reagierte. Das russische Staatsfernsehen hinterfragt seitdem regelmäßig die staatliche Souveränität der ukraine. Somit entfällt für Präsident Putin die Notwendigkeit, dieses Thema über die Krisenmomente hinaus selbst aufzugreifen.

ukrainekrim

Die Krim-Annexion 2014 kam sowohl für die russische Gesellschaft als auch für die internationale Gemeinschaft überraschend. Die offizielle Kreml-Rhetorik spiegelt diese Tatsache wider: Die Halbinsel krim wurde vor 2014 kaum erwähnt. Auch wenn der Plan, nach dem die Annexion ablief, schon länger ausgearbeitet war, wurde die Entscheidung, ihn im Februar 2014 in die Realität umzusetzen, bewusst nicht durch eine Propagandakampagne in Russland vorbereitet. Erst im Nachgang wurde die Krim zu einem Schlüsselelement in der Selbst- und Fremddarstellung Russlands.

krimsyrien

Gemessen an der zentralen Bedeutung der Krim-Annexion für Russlands Innen- und Außenpolitik klingt die direkte Bezugnahme auf die krim schnell und kontinuierlich wieder ab. Nach 2017 verschwindet die Krim zwar nicht völlig aus dem Kreml-Narrativ, pendelt sich aber auf einem relativ niedrigschwelligen Niveau ein. Dagegen steigt die Bedeutung syriens in der russischen Außenpolitik und erfordert eine Einordnung durch die offizielle Rhetorik.

krimtataren

Die krimtatar*innen bleiben der für Russland schwierigste Aspekt der Annexion. Ihr territorialer Anspruch auf die Krim ist eng mit der Erinnerung an die Deportation unter Stalin und die Rückkehr auf die Halbinsel nach 1991 verknüpft. 2014 protestierten vor allem Krimtatar*innen gegen die Annexion. Auf sie konzentrieren sich seitdem die Repressionen des Regimes. Krimtatarische politische Organisationen und Medien wurden verboten. Es ist daher im Interesse Russlands, die Krimtataren in offiziellen Reden so wenig wie möglich zu erwähnen.  

donbassdonezkluhansk

Der im Anschluss an die Krim-Annexion beginnende Krieg im Donbass wird in der offiziellen Rhetorik kaum thematisiert. Mit einer zeitlichen Verzögerung – der Krieg begann in der ersten Jahreshälfte 2014 – sind die zentralen Kriegsschauplätze donbass, donezk und luhansk im Jahr 2015 etwas präsenter, klingen aber bis 2019 weiter ab. Das offizielle russische Narrativ streitet bis heute die Beteiligung Russlands an diesem Krieg ab – somit ist die nur punktuelle Bezugnahme auf die Region eine logische Konsequenz. 

separatistvolksmiliz

Die Begriffe separatist + separatismus werden vom russischen Präsidenten in Bezug auf den Donbass vermieden – nicht zuletzt um diese von den tschetschenischen Separatisten abzutrennen. Im Vordergrund steht vielmehr der Begriff volksmilizen, der eine größere Legitimität suggeriert.

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Sozialpolitik: Familie toppt alles

Text: 17.03.2020

Wachsender Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten – dieses Versprechen war und ist einer der zentralen Gründe für die große Popularität von Wladimir Putin in Russland. Dazu gehört auch eine aktive Sozialpolitik. In den ersten zwei Amtszeiten Putins (2000–2008) haben sich die staatlichen Sozialausgaben (umgerechnet in US-Dollar) fast verzehnfacht. Doch offensichtlich reichen alle Anstrengungen nicht aus, sozialpolitische Themen landen bei Umfragen zu den größten Problemen des Landes durchgehend in den Top-5. Versuche, kostenintensive sozialpolitische Leistungen einzuschränken, wie etwa die Monetarisierung 2004 oder die Rentenreform 2018, führten zu Massenprotesten.

renten + rentner

In der ersten Amtszeit Putins sind die renten das zentrale von ihm angesprochene sozialpolitische Thema. Eine erste Rentenreform wird umgesetzt, erweist sich aber als nicht nachhaltig. Wie in vielen anderen Ländern werden auch in Russland die Reformen zu einem undankbaren Thema: Sie kommen zwar immer wieder in seinen Reden vor, jedoch in abnehmender Häufigkeit. Nach der Verabschiedung der Rentenreform 2018 sprach Putin kaum noch über das Thema – obwohl es laut Umfragen für viele Russen das wichtigste innenpolitischen Ereignis darstellte.

renten + rentnergesundheitssystem + medizin

Von bleibender Sichtbarkeit ist hingegen das Gesundheitswesen, eine dauerhafte Reformbaustelle, die auch über die sogenannten Nationalen Projekte angegangen werden soll und daher in den offiziellen Ansprachen zwangsläufig öfter vorkommt. Hinzu kommt, dass die gesundheitsversorgung in Umfragen regelmäßig als wichtigstes sozialpolitisches Thema genannt wird.

armutarbeitslosigkeit

Unter den klassischen vier Bereichen der Sozialpolitik – Renten, Gesundheitswesen, armut und arbeitslosigkeit – kommen die letzten zwei in den Präsidentenansprachen am seltensten vor. Dabei lebte nach der offiziellen russischen Statistik auch 2019 immer noch jeder Achte unterhalb des Existenzminimums – in der Selbsteinschätzung der Bevölkerung sind es sogar deutlich mehr. Auch die Durchschnittslöhne sind seit ihrem Höchststand vor der Ukraine-Krise deutlich gesunken. Die Arbeitslosigkeit wird nur während der globalen Wirtschaftskrise 2009 häufig angesprochen.

familiegesundheitswesen

Die globale Wirtschaftskrise 2008/09 hat auch Russland stark getroffen. Viele Kommentatoren gehen davon aus, dass der Sozialpakt der russischen Führung mit der Bevölkerung seitdem ins Wanken geraten ist. Als staatliche Reaktion darauf wird der Einsatz nationalistischer Propaganda gesehen – vor allem im Zusammenhang mit der Annexion der Krim 2014. Die „konservative Wende“ in der Sozialpolitik beginnt aber bereits früher: Die Häufigkeit der Bezüge auf die familie nimmt in den letzten 20 Jahren wellenförmig aber stetig zu.

familiesoziale themen

Die Zustimmung, die im Zuge der Krim-Annexion entsteht, hält aber nicht lange. Die russische Einmischung in Syrien wird weniger begeistert aufgenommen und auch das Ende des dynamischen Wirtschaftswachstums belastet Putins Popularität. Der Staat reagiert einerseits mit stärkeren Repressionen gegen Proteste. Andererseits soll aber die „konservative Wende“ weiterhin nationalen Zusammenhalt schaffen und eine Abgrenzung vom Westen begründen. 2019 steigen die Bezugnahmen auf die familie bei Putin auf einen neuen Rekordwert: Der Begriff wird öfter genannt als die vier klassischen Bereiche der Sozialpolitik – renten + gesundheit + armut + arbeitslosigkeit – zusammengenommen.

Medwedews HighlightsRussland und die UkraineSozialpolitikKampf gegen KorruptionNationalitätenpolitik

Kampf gegen Korruption: Viel Lärm um nichts?

Text: 18.03.2020

Mit der Korruption in Russland ist das so eine Sache: Alle, angefangen beim Präsidenten, wollen sie bekämpfen. Zwischen der offiziellen Rhetorik und der tatsächlichen Realität liegen aber Welten, was ein schneller Blick auf nationale Umfragen und internationale Rankings  verrät.

Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International befindet sich Russland seit Jahren im untersten Drittel und teilt sich aktuell Platz 137 mit Liberia, dem Libanon und anderen fragilen Post-Konflikt-Gesellschaften. Laut Umfragen des renommierten Lewada-Zentrums vertreten 31 Prozent der Russen die Meinung, dass die Korruption zwischen dem Amtsantritt Putins im Jahr 2000 und 2017 gar zugenommen habe. 43 Prozent sahen keine Veränderung und nur 15 Prozent waren der Meinung, die Korruption sei zurückgegangen.

korruptionbestechung

Medwedew versuchte sich zu Beginn seiner Präsidentschaft von Putin abzugrenzen und wollte sich unter anderem als engagierter Kämpfer gegen die Korruption profilieren. Das ist ihm tatsächlich gelungen – zumindest in seinen Reden, denn in den vier Jahren seiner Amtszeit sprach er ebenso oft über korruption wie Putin in 16 Jahren. Tatsächlich wurde Medwedew selbst Korruption vorgeworfen. Entsprechende Recherchen etwa vom Fonds für Korruptionsbekämpfung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny führten jedoch nie zu juristischen Konsequenzen.

kampf gegen korruptionkampf gegen terrorismus

Interessant ist, dass Putin die gesellschaftliche Unzufriedenheit über die Korruption nicht aufgreift und auch nicht stärker für sich nutzt – etwa indem er durch eine breite Antikorruptionskampagne seine eigene Popularität steigert (wie es z. B. in China unter Xi Jinping der Fall ist). Der kampf gegen korruption wird, insbesondere im Vergleich z. B. mit dem kampf gegen terrorismus selten erwähnt – während gleichzeitig immer wieder Korruptionsskandale an die Öffentlichkeit dringen.

навальный

Apropos Korruptionsskandale: Die werden immer wieder mal von Alexej Nawalny aufgedeckt (so auch im Falle Medwedews), dem prominentesten Herausforderer von Wladimir Putin. Selbst wenn Putin direkt auf Nawalny angesprochen wird, nimmt er dessen Namen nie in den Mund, sondern umschifft Fragen zu nawalny elegant.

ofshorisazijadeofshorisazija

Der Begriff ofshorisazija meint in Russland übrigens nicht die Erschließung von Ölvorkommen, sondern steht für ins sichere Ausland geschleustes (Schwarz-)Geld. Laut Schätzungen soll mehr als eine Billion US-Dollar aus Russland in ausländische Offshore-Konten geflossen sein. In keinem anderen Land der Welt ist der Anteil von Vermögen der Superreichen, das in ausländischen Offshore-Konten versteckt wird, auch nur annähernd so hoch wie in Russland: Dort liegt er bei rund 60 Prozent. 2013 unternahm Putin per deofshorisazija-Initiative den Versuch, zumindest Teile davon nach Russland zurückzuholen und versprach im Gegenzug eine umfassende Amnestie. Der Erfolg blieb jedoch aus, die angesprochene Klientel wähnt ihr Geld auf den Caymans & Co. anscheinend sicherer als auf der russischen Sberbank. Somit verschwand auch die Deoffshorisiazija wieder aus Putins Sprachrepertoire.

Medwedews HighlightsRussland und die UkraineSozialpolitikKampf gegen KorruptionNationalitätenpolitik

Nationalitätenpolitik: russländische Nation versus russisches Volk?

Text: 18.03.2020

Im Januar 2020 initiierte Präsident Putin eine umfangreiche Verfassungsreform. Eine der Änderungen betrifft auch die Frage nach der nationalen Identität des Vielvölkerstaates Russland. Konkret soll das russische Volk offiziell als das „staatsbildende Volk“ im Grundgesetz verankert werden. Diese Maßnahme bildet den vorläufigen Höhepunkt einer bereits seit zehn Jahren laufenden Entwicklung. Dazu zählt das Konzept des Russki Mir, die Idee der „Russländischen Nation mit russischem Kulturkern“ und die in offiziellen Zusammenhängen gehäufte Verwendung der Formulierung „russisches Volk“ anstelle von „russländisches Volk“.

russischrussländisch

Im Russischen gibt es zwei Adjektive, deren Bedeutungen nahe beieinander liegen und doch ganz unterschiedliche Dinge bezeichnen: russki und rossijski. russki heißt „russisch“ in einem ethnisch-nationalen Sinn, während rossijski eine staatsbürgerliche Dimension aufweist und im Deutschen mit „russländisch“ übersetzt werden kann. Der offizielle Staatsname lautet deshalb Russländische Föderation und bezeichnet ein administratives Gebilde mit 85 sogenannten Föderationssubjekten – einschließlich der beiden völkerrechtlich nicht anerkannten Republik Krim und Stadt Sewastopol.

multiethnisches volk

Um die Beziehung des Staats zu den einzelnen Föderationssubjekten und deren unterschiedlichen Ethnien zu regeln, legte Putin 2016 sein Konzept der „Russländischen Nation mit russischem Kulturkern“ vor – auch in Reaktion auf russisch-nationalistische Tendenzen in der Gesellschaft. Anders als noch in den 1990ern geht der ethnisch-russische Nationalismus in diesem Konzept aber nicht mehr in einer supranationalität auf. Vielmehr soll er das Bindeglied des fragilen russländischen Vielvölkerstaates sein.

nationalitätenpolitik

Wahrscheinlich ist der Tschetschenienkrieg der Grund, weshalb der Begriff nationalitätenpolitik in den ersten zwei Amtszeiten von Putin nicht besonders prominent auftritt und das heikle Thema weitgehend umgangen wurde. Erst das offizielle Ende des Krieges 2009 sowie das Konzept des Russki Mir führten zu intensiven Debatten über die Rolle der nichtrussischen Nationalitäten im föderalen Staat. In der Folge widmete Präsident Putin 2012 einen seiner programmatischen Wahlkampfartikel der Nationalitätenpolitik. 

russländische nation

Über die „Russländische Nation mit russischem Kulturkern“ begann Putin erst in seiner zweiten Amtszeit zu sprechen. Es ging ihm um die ideologische Sicherung der Russländischen Föderation, die er vor dem Schicksal der Sowjetunion bewahren wollte, die letztlich entlang ethnischer Linien auseinandergebrochen war. Die Idee einer staasbildenden russländischen nation mit einem “russischem Kulturkern“ wurde zu dieser Zeit allerdings nur in den öffentlichen Diskurs eingespielt, noch ohne besondere Prominenz zu erlangen.
Im Jahr 2016 kündigte Präsident Putin dann ein „Gesetz über die russländische Nation“ an. Das Thema konnte sich aber nicht wirklich entfalten. Manche Teilrepubliken, in denen Russen keine Mehrheit bilden – wie etwa Dagestan, Tatarstan oder Jakutien – sahen darin kein supranationales Konzept, sondern vielmehr eine Bedrohung ihrer eigenen kulturellen Grundlagen. Da auch immer mehr Machtbefugnisse von den Regionen ans Zentrum übergingen, befürchteten sie nun zusätzlich eine russische Dominanz.

orthodoxie

Der „russische Kulturkern“ des Konzepts ist eng mit der russisch-orthodoxen Kirche verbunden. Die orthodoxie ist eine wichtige symbolische Machtressource für den Kreml. Im Vorfeld der Duma- und Präsidentenwahlen wird sie prominent in den öffentlichen Diskurs eingespeist. 

orthodoxieislam

Für das Konzept der „russländischen Nation“ ist neben der orthodoxie allerdings auch der islam von großer Bedeutung – auch um eine vermeintliche Überlegenheit gegenüber Westeuropa zu postulieren: Die Russländische Föderation verfüge über eine viel längere Erfahrung mit der Integration des Islams in die Gesellschaft als die westeuropäischen Staaten, die von muslimischer Migration überfordert seien.

islamislamischer staat

Das Interesse für den islam im Jahr 2015 ist vor allem auf das militärische Engagement Russlands in Syrien zurückzuführen, was aus dem Vergleich mit dem islamischer staat sichtbar wird. Die häufige Thematisierung des Islam hat allerdings auch mit der verstärkten Rhetorik von der „russländischen Nation“ zu tun, in der demnach nicht nur viele Nationen, sondern auch Religionen harmonisch koexistieren. 

identität

Eng verzahnt mit dem Nationalitätenkonzept ist das Thema identität, das in den letzten zwanzig Jahren einen stetigen Anstieg verzeichnet. 

russländisches volkrussisches volk

Fast während der ganzen Ära Putin dominiert der politisch korrekte Begriff russländisches volk, der alle Bürger der Russländischen Föderation unabhängig von ihrer Ethnie umfasst. Im Zuge der patriotischen Hochstimmung nach der Krim-Annexion erlebt aber auch der Begriff russisches volk wieder eine Renaissance. Der Grund dafür ist die Annahme einer historischen Vorreiterrolle des „russischen Volks“: In einer Sitzung des Rats für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und für die Menschenrechte erklärte Putin am 10. Dezember 2019, dass das russische Volk selbst aus verschiedenen Völkern entstanden sei, vor allem slawischen, aber auch finno-ugrischen. Nach dieser Logik leitet Putin aus der heterogenen Ganzheit des „russischen Volks“ auch die Ganzheit des „russländischen Volks“ ab. 

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Die Moskau-Korrespondentin Katja Gloger hat Wladimir Putin in seinem Zuhause, beim Angeln, beim Sport und in seinem Büro im Kreml getroffen. Er sprach von Demokratie, Marktwirtschaft und Reformen. Das war Anfang der 2000er. Ein persönlicher Rückblick knapp 20 Jahre später.

Schaut man sich nur die Schlagzeilen über Russland an, kann man schnell den Eindruck gewinnen, im Land gäbe es keine wichtige Entscheidung, die nicht über den Schreibtisch des Präsidenten geht. Wie viel Putin steckt aber tatsächlich in Russland?